Kain und Abel
Besinnung zum Predigttext am 13. Sonntag nach Trinitatis, Reihe III: 1.Mose 4,1-16a
Zwei Brüder, die unterschiedlicher nicht sein könnten:
Kain, dessen Name „ich habe einen Sohn gewonnen mit Hilfe des Herrn” bedeutet,
kurz: „Gewinn” oder „Gottesgeschenk” –
ein Name, der den Stolz der Eltern zum Ausdruck bringt
über den Erstgeborenen, den Erben.
Kain, würden wir heute sagen, übernimmt den väterlichen Betrieb, wird Landwirt.
Mit der Übernahme des Hofes nimmt er auch Adams Fluch auf sich:
„Verflucht sei der Acker um deinetwillen.
Mit Mühsal sollst du dich von ihm ernähren dein Leben lang.
Dornen und Disteln soll er dir tragen.
Im Schweiße deines Angesichts sollst du dein Brot essen.”
Kain nimmt den Fluch auf sich, weil er es kann.
Er ist stark, hat ein breites Kreuz.
Er stemmt sich in den Pflug, bricht die Erde auf,
sät und erntet, dem Fluch zum Trotz, Gott zum Trotz,
dem er ein Opfer seiner Feldfrüchte darbringt,
er muss nicht sparen, so viel hat er geerntet.
Und da ist Abel, dessen Name „Hauch” bedeutet.
Wenn die Eltern stolz auf Kain waren,
dem Gewinn, der zum Gewinner wurde,
was bringen sie mit diesem Namen zum Ausdruck?
Abel scheint kein Gewinnertyp zu sein.
Eher schwächlich, eignet er sich nicht
für die harte Arbeit auf dem Feld.
Er wird ein Hirte.
Mit dem Bauern Kain und dem Hirten Abel
stehen sich zwei grundverschiedene Lebensweisen gegenüber:
Hier der Seßhafte, der das Land besitzt,
ihm die Nahrung abringt,
die er gegen alle Arten von Räubern verteidigt.
Dort der landlose Nomade,
der das Vieh weiden lässt,
wo niemand Anspruch auf das Land erhebt, in der Steppe,
und der dem Regen folgt von der Steppe ins Kulturland und zurück.
Beide werden sich nicht grün gewesen,
beide werden immer wieder in Konflikte geraten sein.
Auch Abel bringt Gott ein Opfer dar.
Abels Opfer weckt bei Gott Sympathie,
Kains Opfer dagegen wird verschmäht.
Diese Parteilichkeit Gottes für den schwachen, herumziehenden Abel weckt Kains Neid.
Man versteht nicht recht, warum – er hat doch alles,
auch eine Gottesbeziehung, wie das nachfolgende Gespräch mit Gott ausweist.
Wir kennen diesen Neid Kains als Sozialneid der Besitzenden
auf die, die ihrer Meinung nach unverdient etwas erhalten,
was ihnen nicht zustehen sollte –
HartzIV-Empfänger, die angeblich nicht arbeiten wollen;
Flüchtlinge, die angeblich Unterstützungen bekommen, die man Mitbürgern vorenthält.
Es gibt auch den Neid auf die Rücksichtnahme, die man gegenüber Schwächeren übt –
so, als würden die Starken zu kurz kommen, weil man auf Schwächere wartet,
ihnen hilft oder für sie eine Pause einlegt.
Gott sympathisiert mit den Schwachen.
Das zieht sich durch die ganze Bibel hindurch.
Nicht die Starken sind die Protagonisten,
nicht die Macher und Gewinner,
sondern die, denen man es nicht zutraut
oder die es sich selbst nicht zutrauen.
Auch die mit den Brüchen in der Biographie,
die sich etwas zuschulden kommen ließen.
Jakob zum Beispiel, das Muttersöhnchen, der Betrüger.
Jakob wird der Stammvater Israels, nicht Esau, der Jäger.
Josef, der Träumer, wird unschuldig eingesperrt und rettet seine Familie.
Moses, das Findelkind, der einen Ägypter erschlägt, führt das Volk Israel aus der Knechtschaft.
Rut, die Ausländerin, ist die Stammmutter Davids.
Und David, der spätere König, ist der kleinste in seiner Familie, das Nesthäkchen,
das man vergaß zu rufen, als Samuel kam.
Gott selbst zeigt sich nicht als Macht, sondern in der Stille.
Der Wochenspruch am Sonntag sprach vom Gottesknecht,
der das geknickte Rohr nicht zerbricht
und den glimmenden Docht nicht auslöscht.
Gott erscheint Elia am Horeb
nicht im Sturm, nicht im Erdbeben, nicht im Feuer,
sondern in einem stillen, sanften Säuseln, in Abel, in einem Hauch.
Kain, der Gewinner, dessen Opfer Gott nicht akzeptiert,
der Gott auch nicht brauchte, um seine Ernte einzufahren, erschlägt Abel.
Mit seinem Mord an Abel wird er plötzlich selbst hilfsbedürftig.
Die Rollen vertauschen sich, Kain wird zu Abel.
Aus dem seßhaften Bauern wird ein unsteter Flüchtling.
Der Hoferbe verliert alles, was er besaß.
Er muss geschützt werden vor den Rachegelüsten seiner Mitmenschen.
Deshalb bringt Gott ein Zeichen an ihm an:
Das Kainszeichen, Symbol seiner Hilfsbedürftigkeit, seiner Schwäche.
Seine Schwäche rettet ihn.
Kain wird eine Familie haben, und einen Erben, Lamech.
Lamech überbietet seinen Vater an Selbstbewusstsein:
„Einen Mann erschlug ich für meine Wunde
und einen Jüngling für eine Beule”, prahlt er.
„Kain soll siebenmal gerächt werden,
aber Lamech siebenundsiebzigmal.”
Die Geschichte scheint sich zu wiederholen.
Auch die späteren Protagonisten der Geschichte Israels sind keine Musterknaben,
sondern haben alle ihre Fehler und Schwächen, fast alle werden schuldig.
Vielleicht ist es kein Zufall, dass Jesus auf Petrus’ Frage,
wie oft man seinem Mitmenschen vergeben soll,
mit einer Anspielung auf Lamechs Prahllied antwortet: „Siebzig mal sieben Mal”.
Ein Lamech wird dann übrigens auch der Vater Noahs.
Diese Namensgleichheit mag darauf hindeuten,
dass sich Kains Linie durchgesetzt hat.
Etwas von Kain steckt in jeder, in jedem von uns.
Das mag uns auch daran erinnern, dass nicht unsere Leistungen,
nicht unser Können, nicht unsere Stärken Gottes Sympathie wecken,
sondern unsere Fehler, unsere Hilfsbedürftigkeit, unsere Schuld,
die Gott uns vergibt, siebzig mal sieben Mal,
und uns dadurch seine Sympathie zeigt und seine Liebe.