Besinnung zum Predigttext am 13. Sonntag nach Trinitatis, Reihe III: 1.Mose 4,1-16a

Zwei Brüder, die unterschiedlicher nicht sein könnten:
Kain, dessen Name „ich habe einen Sohn gewonnen mit Hilfe des Herrn” bedeutet,
kurz: „Gewinn” oder „Gottesgeschenk” –
ein Name, der den Stolz der Eltern zum Ausdruck bringt
über den Erstgeborenen, den Erben.
Kain, würden wir heute sagen, übernimmt den väterlichen Betrieb, wird Landwirt.
Mit der Übernahme des Hofes nimmt er auch Adams Fluch auf sich:
Verflucht sei der Acker um deinetwillen.
Mit Mühsal sollst du dich von ihm ernähren dein Leben lang.
Dornen und Disteln soll er dir tragen.
Im Schweiße deines Angesichts sollst du dein Brot essen.”
Kain nimmt den Fluch auf sich, weil er es kann.
Er ist stark, hat ein breites Kreuz.
Er stemmt sich in den Pflug, bricht die Erde auf,
sät und erntet, dem Fluch zum Trotz, Gott zum Trotz,
dem er ein Opfer seiner Feldfrüchte darbringt,
er muss nicht sparen, so viel hat er geerntet.

Und da ist Abel, dessen Name „Hauch” bedeutet.
Wenn die Eltern stolz auf Kain waren,
dem Gewinn, der zum Gewinner wurde,
was bringen sie mit diesem Namen zum Ausdruck?
Abel scheint kein Gewinnertyp zu sein.
Eher schwächlich, eignet er sich nicht
für die harte Arbeit auf dem Feld.
Er wird ein Hirte.

Mit dem Bauern Kain und dem Hirten Abel
stehen sich zwei grundverschiedene Lebensweisen gegenüber:
Hier der Seßhafte, der das Land besitzt,
ihm die Nahrung abringt,
die er gegen alle Arten von Räubern verteidigt.
Dort der landlose Nomade,
der das Vieh weiden lässt,
wo niemand Anspruch auf das Land erhebt, in der Steppe,
und der dem Regen folgt von der Steppe ins Kulturland und zurück.
Beide werden sich nicht grün gewesen,
beide werden immer wieder in Konflikte geraten sein.

Auch Abel bringt Gott ein Opfer dar.
Abels Opfer weckt bei Gott Sympathie,
Kains Opfer dagegen wird verschmäht.
Diese Parteilichkeit Gottes für den schwachen, herumziehenden Abel weckt Kains Neid.
Man versteht nicht recht, warum – er hat doch alles,
auch eine Gottesbeziehung, wie das nachfolgende Gespräch mit Gott ausweist.

Wir kennen diesen Neid Kains als Sozialneid der Besitzenden
auf die, die ihrer Meinung nach unverdient etwas erhalten,
was ihnen nicht zustehen sollte –
HartzIV-Empfänger, die angeblich nicht arbeiten wollen;
Flüchtlinge, die angeblich Unterstützungen bekommen, die man Mitbürgern vorenthält.

Es gibt auch den Neid auf die Rücksichtnahme, die man gegenüber Schwächeren übt –
so, als würden die Starken zu kurz kommen, weil man auf Schwächere wartet,
ihnen hilft oder für sie eine Pause einlegt.

Gott sympathisiert mit den Schwachen.
Das zieht sich durch die ganze Bibel hindurch.
Nicht die Starken sind die Protagonisten,
nicht die Macher und Gewinner,
sondern die, denen man es nicht zutraut
oder die es sich selbst nicht zutrauen.
Auch die mit den Brüchen in der Biographie,
die sich etwas zuschulden kommen ließen.

Jakob zum Beispiel, das Muttersöhnchen, der Betrüger.
Jakob wird der Stammvater Israels, nicht Esau, der Jäger.
Josef, der Träumer, wird unschuldig eingesperrt und rettet seine Familie.
Moses, das Findelkind, der einen Ägypter erschlägt, führt das Volk Israel aus der Knechtschaft.
Rut, die Ausländerin, ist die Stammmutter Davids.
Und David, der spätere König, ist der kleinste in seiner Familie, das Nesthäkchen,
das man vergaß zu rufen, als Samuel kam.

Gott selbst zeigt sich nicht als Macht, sondern in der Stille.
Der Wochenspruch am Sonntag sprach vom Gottesknecht,
der das geknickte Rohr nicht zerbricht
und den glimmenden Docht nicht auslöscht.
Gott erscheint Elia am Horeb
nicht im Sturm, nicht im Erdbeben, nicht im Feuer,
sondern in einem stillen, sanften Säuseln, in Abel, in einem Hauch.

Kain, der Gewinner, dessen Opfer Gott nicht akzeptiert,
der Gott auch nicht brauchte, um seine Ernte einzufahren, erschlägt Abel.
Mit seinem Mord an Abel wird er plötzlich selbst hilfsbedürftig.
Die Rollen vertauschen sich, Kain wird zu Abel.
Aus dem seßhaften Bauern wird ein unsteter Flüchtling.
Der Hoferbe verliert alles, was er besaß.
Er muss geschützt werden vor den Rachegelüsten seiner Mitmenschen.
Deshalb bringt Gott ein Zeichen an ihm an:
Das Kainszeichen, Symbol seiner Hilfsbedürftigkeit, seiner Schwäche.

Seine Schwäche rettet ihn.
Kain wird eine Familie haben, und einen Erben, Lamech.
Lamech überbietet seinen Vater an Selbstbewusstsein:
Einen Mann erschlug ich für meine Wunde
und einen Jüngling für eine Beule”, prahlt er.
Kain soll siebenmal gerächt werden,
aber Lamech siebenundsiebzigmal.”
Die Geschichte scheint sich zu wiederholen.
Auch die späteren Protagonisten der Geschichte Israels sind keine Musterknaben,
sondern haben alle ihre Fehler und Schwächen, fast alle werden schuldig.

Vielleicht ist es kein Zufall, dass Jesus auf Petrus’ Frage,
wie oft man seinem Mitmenschen vergeben soll,
mit einer Anspielung auf Lamechs Prahllied antwortet: „Siebzig mal sieben Mal”.

Ein Lamech wird dann übrigens auch der Vater Noahs.
Diese Namensgleichheit mag darauf hindeuten,
dass sich Kains Linie durchgesetzt hat.
Etwas von Kain steckt in jeder, in jedem von uns.
Das mag uns auch daran erinnern, dass nicht unsere Leistungen,
nicht unser Können, nicht unsere Stärken Gottes Sympathie wecken,
sondern unsere Fehler, unsere Hilfsbedürftigkeit, unsere Schuld,
die Gott uns vergibt, siebzig mal sieben Mal,
und uns dadurch seine Sympathie zeigt und seine Liebe.

Musikalische Passionsandacht am 3. März 2021
über EG 83 „Ein Lämmlein geht und trägt die Schuld”

Orgelmusik

Begrüßung

Heute wollen wir uns der Passion,
also dem Leid und der Leidenschaft,
von einer ungewöhnlichen Seite nähern:
über den Ohrwurm.
Ein „Ohrwurm” ist ein Musikstück,
das beide Seiten der Passion in sich trägt,
die Leidenschaft und das Leid.
Zu einem Ohrwurm wird eine Musik,
wenn sie einem gut gefällt
und man sie immer wieder hören möchte.
Für die Mitmenschen kann es aber sehr leidvoll sein,
immer wieder dasselbe Musikstück anhören zu müssen,
und auch man selbst hat es irgendwann über.

Es gibt aber Musikstücke,
die bleiben einem im Gedächtnis haften,
weil sie etwas ganz Besonderes sind.
Man kann und man möchte sie immer wieder hören.
Zu einem dieser „Ohrwürmer” im besten Sinne
gehört der heutige Passionschoral:
”Ein Lämmlein geht und trägt die Schuld”.

Choral

1. Strophe mit Auslegung

1. „Ein Lämmlein geht und trägt die Schuld der Welt und ihrer Kinder;
es geht und büßet in Geduld die Sünden aller Sünder;
es geht dahin, wird matt und krank,
ergibt sich auf die Würgebank,
entsaget allen Freuden;
es nimmet an Schmach, Hohn und Spott,
Angst, Wunden, Striemen, Kreuz und Tod
und spricht: „Ich will’s gern leiden.”

Erinnern Sie sich an das Stofftier, das Sie als Kind besaßen?
Wissen Sie noch, wie es hieß?
Das Stofftier war unser bester Freund,
unsere Erinnerung an Zuhause, wenn wir auf Reisen,
unser Beschützer, wenn wir allein zuhause waren,
und es half uns, in den Schlaf zu finden.
Es war ein Bärchen, ein Häschen
oder auch, wie in diesem Lied, ein Lämmlein.

Ein süßes, reizendes Lämmlein malt uns Paul Gerhard vor Augen,
als wäre es eins unserer Kuscheltiere.
Aber schon im nächsten Moment legt er es auf die „Würgebank”,
wo es „Schmach, Hohn, Spott,
Angst, Wunden, Striemen und Tod” erleidet.
Paul Gerhardt, der Dichter des Liedes,
hat das Lamm aus dem Buch der Offenbarung vor Augen,
das „wie geschlachtet” aussieht
und von dem es heißt:
„Das Lamm, das geschlachtet ist,
ist würdig, zu nehmen Kraft und Reichtum und Weisheit
und Stärke und Ehre und Preis und Lob” (Offb. 5,12).
Den sieben Leiden aus dem Lied
stehen sieben Ehrbezeigungen gegenüber,
die dem Lamm gelten.

Das zarte, wie zerbrechlich wirkende Lamm hat das Leiden überlebt
und wird nun mit Ehren überhäuft.
So, wie die Stofftiere unsere oft derbe Zuneigung überlebten.
Darum ist das Lamm auf der „Würgebank”,
so schrecklich die Vorstellung ist,
doch kein schrecklicher Anblick.
Unseren Stofftieren sah man unsere intensive Zuneigung auch an,
und trotzdem behielten wir sie, und behielten sie lieb.
Das Lamm, das Paul Gerhardt besingt,
wird an Stelle des Stofftiers unserer Kindheit
unser Tröster und Begleiter.

Choral

2. Strophe mit Auslegung

4. „Mein Lebetage will ich dich aus meinem Sinn nicht lassen,
dich will ich stets, gleich wie du mich, mit Liebesarmen fassen.
Du sollst sein meines Herzens Licht,
und wenn mein Herz in Stücke bricht,
sollst du mein Herze bleiben;
ich will mich dir, mein höchster Ruhm,
hiermit zu deinem Eigentum
beständiglich verschreiben.

Das Lämmlein, das die Schuld trägt,
ist wie das Stofftier aus Kindertagen
unser bester Freund, der uns Trost spendet, wenn wir traurig sind,
der uns in Einsamkeit und Verzweiflung beisteht,
den wir über alles lieben.
Aber natürlich ist das Lämmlein, das die Schuld trägt,
mehr als unser Stofftier.
Es erwidert unsere Liebe nicht nur tatsächlich,
es hat uns auch zuerst geliebt
und um dieser Liebe willen auch unsere Schuld auf sich genommen.
Darum wird es auch einmal an die Stelle unseres Herzens treten,
wenn unser Herz zerbricht.

Was das Stofftier für das Kind,
oder das Lämmlein für uns Gläubige,
das ist in der Musik der Ohrwurm:
Eine geliebte Melodie, die man immer mit sich trägt
und immer wieder in den Sinn kommt, tröstet oder aufmuntert,
wenn man nicht mit ihr rechnet.
Die Melodie des heutigen Passionsliedes hat das Zeug zum Ohrwurm.
Sie nimmt uns mit in beschwingtem Schritt,
hüpfend fast wie ein Kind,
das sein Kuscheltier spazieren führt.
Im Fortschreiten der Melodie werden auch wir mitgezogen,
wir kommen wieder in Gang,
unser Schritt wird leichtfüßig,
und so führt diese Melodie uns ins Leben.
Spendet Trost, wenn wir traurig,
Spornt uns ans, wenn wir müde sind.
Und erinnert uns dabei stets an das Lämmlein,
das geht und unsere Schuld trägt.
Das Lämmlein, das mit uns durchs Leben geht.

Choral

3. Strophe mit Auslegung

6. „Das soll und will ich mir zunutz zu allen Zeiten machen;
im Streite soll es sein mein Schutz, in Traurigkeit mein Lachen,
in Fröhlichkeit mein Saitenspiel;
und wenn mir nichts mehr schmecken will,
soll mich dies Manna speisen;
im Durst soll’s sein mein Wasserquell,
in Einsamkeit mein Sprachgesell
zu Haus und auch auf Reisen.”

Manchmal hat man eine Melodie im Kopf
und wird sie nicht mehr los: Einen Ohrwurm.
Manchmal findet man ein Bild, das einen tröstet.
Das Passionslied vom Lämmlein vereint beides,
einprägsames Bild und Ohrwurm,
und wird so unser Sprachgesell,
wie das Kuscheltier der Gesell unserer Kindheit war.

Ein „Sprachgesell” vertreibt die Einsamkeit und spendet Trost,
spricht Mut zu und macht Hoffnung.
Das alles bewirkt dieses Lied.
Und wenn wir vielleicht auch seinen Wortlaut wieder vergessen,
bleibt doch die Melodie,
bleibt auch das Bild vom Lämmlein,
das uns in der Kirche an vielen Orten wiederbegegnet.
Zum Beispiel beim Abendmahl,
wenn wir singen:
„Christe, du Lamm Gottes,
der du trägst die Sünd der Welt”.

Christus, das Lamm Gottes,
trägt, woran wir tragen,
und nimmt uns ab, was uns belastet.
Er begleitet uns durch diese Zeit der Passion
und durch unser ganzes Leben.

Darum beten wir,
wie er es uns gelehrt hat:

Vaterunser
Segen

Orgelmusik

Passionsandacht über EG 76 „O Mensch, bewein dein Sünde groß”

Orgelmusik

Begrüßung

Im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes. Amen.
Herzlich willkommen zur musikalischen Passionsandacht.

Leiden und Leidenschaft, die beiden Seiten der Passion,
werden uns auch in dieser Andacht beschäftigen.
Wir werden heute fragen:
Warum musste Jesus den Weg der Passion gehen?
Oder mit dem Theologen und Philosophen Anselm von Canterbury:
Cur deus homo?, Warum wurde Gott ein Mensch?

Die Antwort auf diese Frage wird uns das Passionslied
„O Mensch, bewein dein Sünde groß” geben,
das wir jetzt von der Orgel gespielt hören.

Orgel: Choralvorspiel

  1. Strophe mit Auslegung
    O Mensch, bewein dein Sünde groß, darum Christus seins Vaters Schoß
    äußert und kam auf Erden;
    von einer Jungfrau rein und zart für uns er hier geboren ward,
    er wollt der Mittler werden.
    Den Toten er das Leben gab und tat dabei all Krankheit ab,
    bis sich die Zeit herdrange,
    dass er für uns geopfert würd, trüg unsrer Sünden schwere Bürd
    wohl an dem Kreuze lange.

Am Ende des 12. Jahrhunderts stellte Anselm von Canterbury sich die Frage,
warum Gott Mensch wurde.
Als Gelehrter, der er war, stellte er sie auf Latein: Cur deus homo?
Gott sein ist doch viel besser, als Mensch zu sein:
Man hat nichts zu erdulden, erlebt nicht die täglichen Mühen und Plagen,
keine Krankheit, und auch nicht die Last des Alters.
Warum tat Gott sich das an, von seinem Thron im Himmel herabzusteigen?
Antwort: Es ist die Sünde des Menschen,
die Gott gleichsam dazu zwang, Mensch zu werden.
Denn die Sünde des Menschen kränkt Gott.
Der Mensch muss diese Kränkung wieder gut machen,
kann es aber nicht, weil er nun einmal Sünder ist und bleibt.
Also bleiben Gott nur zwei Möglichkeiten:
Entweder, er vernichtet aus Zorn die ganze Menschheit –
aber das kann er nicht, denn er hat Noah versprochen,
dass er nie mehr die Menschheit schlagen würde,
wie er es in der Sintflut tat.
Oder er schafft sich Wiedergutmachung,
indem ein sündloser Mensch die Sünde aller Menschen auf sich nimmt:
Jesus, Gottes eigener Sohn, stirbt für unsere Sünde am Kreuz,
um Gott, seinem Vater, Wiedergutmachung zu verschaffen.

Wenn man den Gedanken der Wiedergutmachung begangenen Unrechts
in dieser Kürze und Zuspitzung hört, ist man fassungslos,
wie man so etwas behaupten und glauben kann.
Die Lehre, dass Gott zornig über unsere Sünde ist
und mit dem Opfer seines Sohnes versöhnt werden musste,
war über Jahrhunderte die zentrale Botschaft der Kirche.
Generationen wurden erzogen in dem Bewusstsein ihrer Sündenschuld,
über die Gott so zornig ist, dass er seinen eigenen Sohn am Kreuz sterben ließ.

Dieser Gedanke findet sich in zahlreichen Liedern des Gesangbuchs –
auch in unserem Passionslied, wo es heißt,
dass Christus um unserer Sünde willen den „Schoß des Vaters” verließ,
den denkbar besten und schönsten Ort, an dem man sein kann.
Noch schöner und geborgener als Abrahams Schoß –
und das ist schon der Gipfel der Geborgenheit.
Unserer Sünden wegen wurde Christus für uns geopfert,
um „an dem Kreuze lange” die Last unserer Schuld zu tragen.

Darüber kann man nur weinen,
untröstlich sein, dass wir Jesus das angetan haben,
und sich seiner Schuld und Sünde schämen.

Orgel: Choralfantasie

  1. Strophe mit Auslegung
    So lasst uns nun ihm dankbar sein, dass er für uns litt solche Pein,
    nach seinem Willen leben.
    Auch lasst uns sein der Sünde feind, weil uns Gotts Wort so helle scheint,
    Tag, Nacht danach tun streben,
    die Lieb erzeigen jedermann, die Christus hat an uns getan
    mit seinem Leiden, Sterben.
    O Menschenkind, betracht das recht, wie Gottes Zorn die Sünde schlägt,
    tu dich davor bewahren!

Cur deus homo, warum wurde Gott Mensch?
Weil Gott so zornig ist, dass ihn nur der Tod seines eigenen Sohnes besänftigen konnte?
Ein unglaublicher, ein unmöglicher Gedanke!
Und im Grunde auch viel zu weit hergeholt, viel zu kompliziert.
Viel naheliegender ist doch ein anderer Grund.
Einer, den Jesus selbst immer wieder gepredigt und vorgelebt hat,
indem er Tote auferweckte und Kranke heilte:
Gott wurde Mensch aus leidenschaftlicher Liebe zu uns.
Aus Liebe wurde Gott Mensch:
Um uns frei zu machen von der Sünde
und uns das Leben zu schenken –
ein Leben in Freiheit jetzt und hier,
und das ewige Leben in Gottes Fülle,
wenn Christus wiederkommt.

Ja, Jesus hat am Kreuz gelitten,
ja, er ist für uns gestorben.
Aber nicht, um Wiedergutmachung zu leisten,
um einen zornigen, wutschnaubenden, gewalttätigen Gott milde zu stimmen.
Sondern weil des Menschen blinde Wut,
des Menschen Hass auf das Fremde,
des Menschen Gewalt ihn ans Kreuz schlug.
Jesus nahm unsere Wut, unseren Hass, unsere Gewalt auf sich,
er opferte sich,
damit wir niemanden mehr opfern müssen,
und damit wir nicht mehr wütend sein,
nicht mehr hassen müssen
und niemanden mehr schlagen.
Er tat es aus Liebe zu uns,
damit wir fähig werden zur Liebe
dem Nächsten, der Nächsten gegenüber
und uns selbst.

Vaterunser
Segen

Orgelmusik

Eine Reihe von 6 Passionsandachten zu einem Passionschoral des Evangelischen Gesangbuches

Passionsandacht am Aschermittwoch, 17. Februar 2021 über EG 75 „Ehre sei dir, Christe”

Orgelmusik

Begrüßung und Einführung

Mit dem Aschermittwoch beginnt die Passionszeit.
Passion, das ist ein Fremdwort, über das wir nicht mehr viel nachdenken,
weil es sozusagen ein kirchliches Fachwort geworden ist,
wie „Epistel” oder „Altar”.
Dabei ist dieses Wort sehr vielschichtig.
Es bedeutet „Leiden” und auch „Leidenschaft“,
es hat eine negative und eine positive Seite.
Jesus hat den Tod am Kreuz auf sich genommen,
das ist die Leidensseite.
Er tat es aus einer leidenschaftlichen Liebe heraus,
aus Liebe zu uns.
Das ist die positive Seite.

Leiden und Leidenschaft sind zwei Seiten einer Medaille.
Durch die Liebe hängen sie zusammen.
Diesen Zusammenhang von Leid und Leidenschaft
und die Liebe, die sie zusammenhält,
wollen wir jeweils anhand eines Passionsliedes
in dieser und den folgenden Passionsandachten bedenken.

Über Leidenschaft kann man kaum sprechen,
ohne dass es schwülstig oder kitschig wird.
Was Leidenschaft ist und bedeutet,
lässt uns dagegen die Musik unmittelbar fühlen.
Darum haben diese Andachten einen musikalischen Schwerpunkt.
Die Musik braucht keine Worte,
um uns empfinden zu lassen,was Leidenschaft ist.
Es braucht dann nur noch einige wenige Worte,
um das, was wir empfinden, auch zu verstehen.

Wir beginnen mit dem Lied Nr. 75 im Gesangbuch:
„Ehre sei dir, Christe”,
und feiern diese Andacht
im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes. Amen.

Choralbearbeitung

Strophe mit Auslegung

1. Ehre sei dir, Christe, der du littest Not,
an dem Stamm des Kreuzes für uns bittern Tod,
herrschest mit dem Vater in der Ewigkeit:
hilf uns armen Sündern zu der Seligkeit.
Kyrie eleison, Christe eleison, Kyrie eleison.

Schon in der ersten Strophe findet sich beides wieder:
das Leid „am Stamm des Kreuzes”
und in der Bitte um Erbarmen: Kyrie eleison!,
und auch das Positive: „Ehre” und „Seligkeit”.

Der, der da besungen und angeredet wird,
ist nicht der am Kreuz Leidende,
sondern der Auferstandene,
von dem wir im Glaubensbekenntnis sagen:
„sitzend zur Rechten Gottes”.
Hier im Lied heißt es: „herrschest mit dem Vater in der Ewigkeit”

Wenn wir uns mit der Passion, dem Leiden Jesu, beschäftigen,
tun wir das, weil Jesus das Leiden überwunden hat und auferstanden ist.
Die Evangelien, die von seinem Leben
und dann besonders auch von seiner Passion erzählen,
sind quasi von vorne nach hinten geschrieben,
von seiner Auferstehung her schildern sie sein Leiden und seinen Tod.
Das schmälert seine Leiden nicht,
macht seinen Tod nicht weniger grausam und schrecklich.
Aber es gibt ihnen nicht das letzte Wort,
und es zeigt uns, dass es ein Happy End gibt –
für Jesus, und auch für uns.

Wenn wir Leid erfahren, ist es genau umgekehrt:
Wir sehen nicht, wie es ausgehen wird,
und dass es gut ausgehen wird, im Gegenteil:
Wir befürchten oft das Schlimmste,
und oft kommt es so schlimm, wie wir befürchtet haben.

Choralbearbeitung

Strophe mit Auslegung

2. Wäre nicht gekommen Christus in die Welt
und hätt angenommen unser arm Gestalt
und für unsre Sünde gestorben williglich,
so hätten wir müssen verdammt sein ewiglich.
Kyrie eleison, Christe eleison, Kyrie eleison.

Die zweite Strophe handelt von diesem Schlimmsten, was passieren kann,
von Tod und Verdammnis.
Sie tut es in eigenartiger Weise:
Es heißt dort: wäre und hätte.
Wäre und hätte, damit geben wir unserem Bedauern Ausdruck:
Wäre ich nicht zu spät gekommen, hätte ich den Zug noch erwischt,
oder: hätte ich doch bloß auf dich gehört!
Doch es ist eben nicht passiert:
Ich war nicht pünktlich, der Zug ist weg,
oder: ich habe nicht gehört, deshalb ist geschehen, was geschehen ist.

Im Lied ist es genau umgekehrt:
Das Befürchtete tritt nicht ein,
denn Jesus ist ja gekommen – das haben wir an Weihnachten gefeiert,
er „entäußerte sich selbst
und nahm Knechtsgestalt an,
ward den Menschen gleich
und der Erscheinung nach als Mensch erkannt.
Er erniedrigte sich selbst
und ward gehorsam bis zum Tode,
ja zum Tode am Kreuz”
,
wie es im Philipperbrief heißt (Phil 2,7-8).

Weil Jesus Mensch,
weil er einer von uns, unser Bruder geworden ist,
und weil er für uns gestorben ist:
darum tritt das Schlimmste, das passieren kann, nicht ein.

Choralbearbeitung

Strophe mit Auslegung

3. Darum wolln wir loben, danken allezeit
dem Vater und Sohne und dem Heilgen Geist;
bitten, dass sie wollen behüten uns hinfort,
und dass wir stets bleiben bei seinem heilgen Wort.
Kyrie eleison, Christe eleison, Kyrie eleison.

Wenn wir Leid erfahren, sehen wir nicht, dass es gut ausgehen wird.
Wir sehen nicht das Licht am Ende des Tunnels.
Das macht das Leid – das selbst erfahrene,
und das Mit-Erlittene, so schrecklich, und so schwer zu ertragen.

Aber ist es nicht zynisch, zu behaupten, dass Leiden gut ausgeht?
Ist es nicht immer mit einem Verlust verbunden?
Dem Verlust eines geliebten Menschen bei einem Todesfall,
dem Verlust an Lebensqualität, an Fähigkeiten bei einer Krankheit?
Ja, das ist es.
Und doch ist das nicht alles, haben Leiden und Tod nicht das letzte Wort.

Dieses Passionslied möchte uns lehren,
von Ostern her sehen zu lernen, wie die Evangelien es tun
und wie es auch dieses Lied tut:
Vom Auferstandenen und von der Auferstehung her
auf sein Leiden und sein Sterben,
vom Auferstandenen und von der Auferstehung her
auf unser Leiden, unsere Verlusterfahrungen, unsere Angst vor dem Tod.

Das hebt das Leiden, hebt den Verlust nicht auf,
macht sie nicht weniger schrecklich, nicht weniger schmerzhaft.
Aber es zeigt uns das Licht am Ende des Tunnels.
Das Licht, auf das wir, trotz allem, unbeirrt zugehen.
Oder, um es mit Worten des Paulus zu sagen:

„ich bin überzeugt, dass dieser Zeit Leiden nicht ins Gewicht fallen
gegenüber der Herrlichkeit, die an uns offenbart werden soll.
Denn ich bin gewiss, dass weder Tod noch Leben,
weder Engel noch Mächte noch Gewalten,
weder Gegenwärtiges noch Zukünftiges,
weder Hohes noch Tiefes noch irgendeine andere Kreatur
uns scheiden kann von der Liebe Gottes,
die in Christus Jesus ist, unserm Herrn.”
(Römer 8,18.38-39)

Vaterunser

Segen

Orgelmusik

Das, was wir gerade mit dem Corona-Virus erleben, ruft auch die Frage nach Gott auf den Plan: Was kann man dazu als gläubiger Mensch sagen? Die Rabbinerin Danya Ruttenberg (Twitter:@TheRaDR) hat dazu einen wunderbaren Thread geschrieben, den ich für die, die nicht so gut Englisch können, hier übersetzen möchte. Ich nummeriere die einzelnen Tweets durch (im Original sind sie nicht nummeriert). Der Originaltweet ist jeweils unter der Nummer verlinkt.

1. Dies [die Corona-Virus-Pandemie] ist keine Strafe oder ein Test Gottes.
Ich habe ein paar mehr Überlegungen dazu angestellt, deshalb ein Thread. 1/x

2. #Covid_19 ist als Virus durch eine evolutionäre Entwicklung entstanden (dafür gibt es eine wissenschaftliche Begründung — das ist nicht mein Fachgebiet). Der „Test“ bezog sich auf Leitung — die an der Spitze der USA versagte, aber sich machtvoll an vielen Orten der USA zeigte, auf der lokalen und der bundesstaatlichen Ebene.

3. Die Rolle, die Gott dabei spielt, besteht darin, wie wir ab jetzt handeln wollen. Die Tora gebietet uns, unseren Nächsten wie uns selbst zu lieben. Im Augenblick scheint es für diejenigen von uns, die ein geringeres Risiko haben, sich zu infizieren, darum zu gehen, penibel darauf zu achten, sich nicht anzustecken, um andere nicht zu gefährden.

4. Die Rolle, die Gott dabei spielt, besteht darin, dass wir uns um diejenigen kümmern, die verwundbarer sind, indem wir anbieten, Besorgungen für sie zu erledigen oder eine Mahlzeit vorbeibringen – darin, wie wir uns einander in einem Zeitraum zuwenden, in dem alles anstrengend und beängstigend erscheint.

5. Die Rolle, die Gott dabei spielt, besteht in unserer Einsicht, dass wir alle miteinander verbunden sind, und dass jede* von uns eine unersetzbare Offenbarung des Bildes Gottes ist. Und sie besteht in unserer Entscheidung, füreinander zu kämpfen – zur Zeit, indem wir zuhause bleiben, uns nicht umarmen, unsere Hände waschen, aber auch, indem wir unsere Abgeordneten in die Pflicht nehmen.

6. Und darin, alles zu tun, um zu versuchen, die Auswirkungen dieser Pandemie abzumildern, auf der persönlichen Ebene, der familiären, der Ebene der Gemeinde, des Systems. Alle fassen mit an. Die Rolle, die Gott dabei spielt, besteht darin, dass man zur Stelle ist.

7. Die Rolle, die Gott dabei spielt, besteht im Anzapfen des Göttlichen, im Andocken an diese großartige, schimmernde Verbundenheit, im Schöpfen von der Quelle statt aus unseren kleinen, einzelnen Ichs, im [Kraft vom Himmel] Herunterziehen statt im Ausbrennen. Darin, die Quelle zu finden, die uns Kraft gibt; wir brauchen sie so dringend.

8. Die Rolle, die Gott dabei spielt, besteht in den Traditionen und ethischen Systemen, die uns daran erinnern, dass der Schutz des Lebens das wichtigste ist, das alle anderen Entscheidungen zur Seite fegt, die wir treffen könnten. Die uns helfen, unsere Entscheidungen auf Fürsorge, Betroffenheit und Verbundenheit auszurichten.

9. Die Rolle, die Gott dabei spielt, besteht in den Menschen, die unermüdlich, selbstlos und manchmal rund um die Uhr arbeiten, um andere zu versorgen, sogar auf eigenes Risiko, weil kranke Menschen zu pflegen, bessere Tests zu entwickeln, Impfstoffe zu finden sind, und weil es getan werden muss.

10. Die Rolle, die Gott dabei spielt, besteht darin, wie wir uns treffen (ok, besser über eine Videokonferenz), um einen Ausweg aus dieser Lage zu finden, weil wir ihn finden müssen, auch wenn es schwierig ist, gerade wenn es schwierig ist.

11. Hier ein paar Gedanken zur Theodizee, wenn ihr dazu etwas wissen wollt.
Ich interessiere mich weniger dafür, woher das Leid kommt, sondern was tun wir, wenn es uneingeladen vor unserer Tür steht.
Auf welche Reserven können wir zurückgreifen? Resilienz (Widerstandsfähigkeit)? Fürsorge und Liebe und Mut und Risikobereitschaft?

[Diesen Thread übersetze ich hier nicht]

12. Und falls es hilft, hier ein paar Gedanken zur Hoffnung, an der wir weiter festhalten müssen. Halte fest an diesem Licht und lass es nicht los. Was nicht heißt, alles wird gut, oder dass keine Menschen sterben. Es bedeutet: Kämpft gegen die Verzweiflung an.

[Diesen Thread übersetze ich hier auch nicht]

Kirchliche Strukturdebatten sind toll. Weil da jede mitreden kann. Denn alles, was man zum Mitreden braucht, ist eine Meinung – und die hat sich jede im Erleiden oder im „Schaffen“ von Strukturen gebildet.
Kirchliche Strukturdebatten sind deshalb toll, weil man dabei so schön seinen Frust über „die da oben“ ablassen und über deren total falsche Entscheidungen lästern kann – wie ich heute in einem Tweet:

An diesem Tweet kann man schön die Charakteristika des „Strukturdebatten-bashings“ studieren: Verallgemeinerung („Kirchenleitungen“, „irgendwas“), Ungeduld („endlich“) und Besserwisserei („reine Beschäftigungstherapie“).

Ich habe diesen Tweet aber nicht aus pädagogischen Motiven geschrieben, sondern weil ich eben auch nicht „besser“ bin als all die anderen kirchlichen Mitarbeiterinnen, die sich von der Aufgabe, den Mangel zu verwalten und möglichst noch zu gestalten, überfordert fühlen. Dabei beobachte ich an mir selbst eine gewisse Schizophrenie: Ich erwarte von den Leitungsorganen innerhalb der Kirche, dass sie Konzepte zum Umgang mit der Situation finden, zugleich lehne ich sie ab wie im Tweet oben. Das bringt mich auf den Gedanken, ob hinter dem gegenwärtigen Leiden an Strukturdebatten und -veränderungen nicht etwas anderes und uns wohl bekanntes steht: Die menschliche Hybris.

Noch immer erwarten wir von Kirchenleitungen auf allen Ebenen – und, sofern wir als kirchliche Mitarbeiterinnen in Leitungsgremien sitzen oder Leitungsaufgaben wahrnehmen, auch von uns – dass sie „wissen, wo’s langgeht“, getreu dem Choral: „Weiß ich den Weg auch nicht, du weißt ihn wohl“*. Und genau hier ist der Irrtum passiert, wie er am Zitat des Chorals deutlich wird. Das „Du“ ist ja nicht die Superintendentin oder die Bischöfin, das bin auch nicht ich als Pfarrerin, sondern es ist ja Gott, der in diesem Choral angeredet wird. Und es ist das Kennzeichen menschlicher Hybris, immer wieder Gelegenheit zu suchen, sich an Gottes Stelle zu setzen.

Aber „man“ fühlt sich eben doch angesprochen, wenn jemand nach dem Weg fragt. Und wenn man auch keine Ahnung hat, so hat man doch zumindest eine Meinung (s.o.), und genau das ist ein Element der Perpetuierung der Strukturdebatte. Ein anderes ist, dass eigentlich niemandem klar ist, wo es langgehen soll. Hier versteckt sich die nächste Gelegenheit zur Hybris: Über den Weg entscheiden, das Ziel bestimmen: Das macht die Anführerin. Und so schauen wir auf die Bischöfin, die Superintendentin oder werden als kirchliche Mitarbeiterin angeschaut: Wo soll es denn nun hingehen? Aber das „wandernde Gottesvolk“ weiß nichts von einem Ziel – außer jenem fernen, dessen man sich im „Maranatha!“ versichert: dem Reich Gottes. Den Weg dahin zu führen ist Menschen weder vergönnt noch bestimmt. So kann man unsere Lage wohl mit der des Volkes Israel in der Zeit der Wüstenwanderung vergleichen. Und vielleicht gilt auch uns das Verdikt, das über das Gottesvolk damals ausgesprochen wurde: „Sie sollen nicht hineinkommen“ (Dtn 1,35)**. Wir richten uns in unserer Kirche, unseren Gemeinden häuslich ein, dabei sind sie doch nur eine Hülle, sollen uns, die wir auf dem Weg sind, ein „leichtes Zelt“ (EG 428,4) sein, keine permanenten und bis in alle Ewigkeit zu perpetuierenden Strukuren (!). Und das Goldene Kalb, um das wir heute tanzen, könnten eben besagte Strukturreformen sein, und unser Massa und Meriba das unaufhörliche Murren über unzumutbare Arbeitsbedingungen, undankbare Gemeinden, unfähige kirchliche Mitarbeiterinnen etc.

Vielleicht wäre es deshalb angebracht, Buße zu tun. Und statt des nächsten Strukturpapiers wäre vielleicht ein Bußwort am Platze, in dem Leitende eingestehen***, dass sie auch nicht wissen, wo es langgeht; dass sie den Druck empfinden, unter dem ihre Mitarbeitenden stehen, aber auch nicht wissen, wie sie ihn von ihnen nehmen sollen; dass wir alle lernen müssen, darauf zu vertrauen, dass der Herr der Kirche weiß, wohin er mit uns will, auch – oder gerade? – wenn die gewohnten Strukturen nicht mehr zu erhalten sind.

 


*) Über Geschmack lässt sich bekanntlich nicht streiten. Es ist wahrscheinlich kein Verlust, dass dieser Choral Hedwig von Rederns es nicht in den Stammteil des EG geschafft hat. Im Bayerischen EKG ist er im Gebetsteil mit der Entstehungszeit „1915“ und einer rührenden Anekdote aufgeführt; die Braunschweigische Landeskirche hat ihn unter der Nr. 591 in den Regionalteil aufgenommen, weil er in Braunschweig gern auf Beerdigungen gesungen wurde (hier ist als Entstehungsjahr 1901 genannt).

**) Ja, hier deutet das deuteronomistische Geschichtswerk Geschichte, die vielleicht nur als Geschichte existiert. Aber was ist unser Umgang mit der Bibel anderes als Deutung unserer (Lebens-)Geschichte mit Geschichten, die vielleicht nur als Geschichten existieren.

***) Die kirchliche Spielart menschlicher Hybris macht sich besonders daran fest, dass Leitungspersonen niemals Schwäche(n) zeigen dürfen. Man stelle sich eine Kandidatin für das Amt der Superintendentin vor, die öffentlich bekennt, an Depressionen zu leiden oder einen Burnout gehabt zu haben; eine Kirchenrätin, die ihre Ratlosigkeit oder ihre Inkompetenz in einem bestimmten Fachgebiet eingesteht. Dabei sollte das gerade in der Kirche selbstverständlich sein – ja, m.E. sollte es zu einer Voraussetzung eines Leitungsamtes in der Kirche gehören, sich über die eigenen Grenzen im klaren zu sein. Unseren Bischöfinnen würde eine Hofnärrin gut tun, die ihnen den Spiegel vorhält, oder, besser noch, einer jener Sklaven, der hinter dem Triumphator auf dem Triumphwagen stand und ihm ununterbrochen sagte: „Respice post te, hominem te esse memento“.

Versuch, den Predigttext für den Sonntag Jubilate, 2.Korinther 4,16-18, mit Hilfe der „Laws of Form“ zu analysieren (so gut ich es eben verstehe).

Der griechische Text:
Διὸ οὐκ ἐγκακοῦμεν, ἀλλ’
εἰ καὶ ὁ ἔξω ἡμῶν ἄνθρωπος διαφθείρεται,
ἀλλ’ ὁ ἔσω ἡμῶν ἀνακαινοῦται ἡμέρᾳ καὶ ἡμέρᾳ.
τὸ γὰρ παραυτίκα ἐλαφρὸν τῆς θλίψεως ἡμῶν
καθ’ ὑπερβολὴν εἰς ὑπερβολὴν αἰώνιον βάρος δόξης κατεργάζεται ἡμῖν,
μὴ σκοπούντων ἡμῶν τὰ βλεπόμενα
ἀλλὰ τὰ μὴ βλεπόμενα·
τὰ γὰρ βλεπόμενα πρόσκαιρα,
τὰ δὲ μὴ βλεπόμενα αἰώνια.

Übersetzung:
Darum werden wir nicht müde, sondern,
wenn auch unser äußerer Mensch zugrunde geht,
wird unser inner doch täglich erneuert.
Denn die leichte Last unserer gegenwärtigen Probleme
wirkt für uns eine übermäßige Fülle ewiger Herrlichkeit,
die wir nicht achten auf das Sichtbare,
sondern auf das, was man nicht sehen kann.
Denn das Sichtbare ist vergänglich,
was man aber nicht sehen kann, ist ewig.

Struktur:

außen  -> vergeht
das Sichtbare -> vergänglich
die leichte Last der Probleme

vs.

die Fülle der Herrlichkeit
das Unsichtbare -> ewig
innen -> wird erneuert

These:

Glauben/Religion haben bedeutet, zu unterscheiden.
Wie wäre dann das Spezifische dieser Unterscheidung im Gegensatz zu anderen Unterscheidungen zu bestimmen?

Aus den Reaktionen auf meinen Blogpost auf Twitter, vor allem denen von @RolfTodesco:

habe ich erkannt, dass das, was mich „getriggert“ hat, der erste Satz des Wikipediaartikels über die LoF war: „Der Ausgangspunkt von Spencer-Brown ist die logische Form der Unterscheidung.“ Ich habe festgestellt, dass Paulus Unterscheidungen vornimmt und gedacht, sie ließen sich mit Spencer-Browns Regeln analysieren. Dann habe ich gelernt, dass die Art, wie ich diese Regeln anwenden wollte, eigentlich von Luhmann stammt:

Weitergebracht hat mich die Frage, was das Spezifische der religiösen Unterscheidung ist, und das ist der Rekurs auf die Schrift als Kriterium (in der Form des Kanons sogar in doppelter Weise!). Was dann dieser Versuch konkret „gefruchtet“ hat ist die Erkenntnis, dass der Glaube eine Technik, eine Methode, ist.

Diese Predigt ist dabei herausgekommen.

Predigt am Karfreitag, 30. März 2018, über Hebräer 9,15.26b-28:

Jesus ist der Vermittler eines neuen Bundes,
damit die zum ewigen Erbe Berufenen die Verheißung empfangen.
Dazu musste Jesus sterben,
um von den zur Zeit des ersten Bundes begangenen Übertretungen zu befreien.
Jetzt aber ist er einmal am Ende der Zeiten erschienen,
um durch das Opfer seiner selbst die Sünden unwirksam zu machen.
Und wie es den Menschen bestimmt ist,
einmal zu sterben, und danach kommt das Gericht,
so ist auch Christus einmal dargebracht worden,
um die Sünden der Vielen zu tragen.
Zum zweiten Mal wird er ohne Sünde denen erscheinen,
die ihn zu ihrer Rettung erwarten.

(eigene Übersetzung)

 

Gliederung der Predigt:

  1. Einleitung:
    Wie bekommt man einen Job?
    – man kann sich bewerben,
    besser: man wird gefragt – passiert leider selten
    => Vermittler hilft: „Vitamin B“
  2. Wie bekommt man einen Job bei Gott (wie kommt man an Gott heran)?
    Problem: deus absconditus
    => Vermittler, der Gott gesehen hat (kennt) -> Gottes Sohn (wer sollte Gott besser kennen?)
  3. Warum muss der Vermittler sterben?
    Wir sind nicht qualifiziert,
    Gutes und Böses sind in uns untrennbar vermischt -> so kann Gott uns nicht gebrauchen.
  4. Trennung (Unterscheidung) ist schöpferisches Handeln Gottes (Gen 1),
    aber wenn Gott das Böse von uns abtrennt,
    sind wir nicht mehr wir selbst (keine Menschen mehr) -> so kann Gott uns auch nicht gebrauchen
  5. Dilemma: Wie können wir gut sein und zugleich Mensch (= wir selbst) bleiben?
    Lösung: Jesus macht die Sünde (= das Böse in uns) unwirksam
  6. Was ist die Wirkung der Sünde?
    Trennung von Gott und den Mitmenschen
    – keine schöpferische Trennung, sondern Zerstörung von Beziehungen
    („das Tischtuch ist zerschnitten“)
  7. Wie überwindet Jesus die Trennung?
    Er opfert sich für unsere Beziehung zu Gott
    -> schrecklicher Gedanke:
    Partner*innen, Kinder opfern sich, um Beziehung zu retten, mit fatalen Folgen
  8. Parallele: Jesus ist genauso ohnmächtig wie Kinder, Partner
    Unterschied: Jesus überlebt das Opfer => es gibt einen neuen Anfang in der Beziehung, und zwar Jetzt = jederzeit
  9. Fazit:
    Gott kann und will uns einen Job geben („uns brauchen“):
    Wir sollen von der Heilung der Beziehung erzählen,
    damit es für die, die hören, ein Jetzt gibt.

 

Hintergedanken

Predigtidee:

Ich bin am μεσίτης, dem „Mittler“, hängen geblieben und fragte mich, was die Rolle einer „Mittlers“ in heutiger Zeit sein könnte, mit deren Hilfe man verstehen könnte, was Jesus „vermittelt“. Dadurch bin ich auf die Jobsuche gekommen und die „connections“, das „Vitamin B“, das man benötigt, um an die begehrte Stelle zu gelangen. Mir gefällt die Ambivalenz des Vermittlers, weil das schon zur menschlichen Verfasstheit überleitet, die gut und böse zugleich ist.

Predigtaufbau:

Die Predigt ist im Grunde eine Homilie, nur, dass ich den Text nicht Vers für Vers abarbeite. Ich habe auch den Kontext VV 16-26a mit aufgenommen, besonders Vers 24, wo Jesus als unser Anwalt vor Gott beschrieben wird – eine andere Facette des Vermittlers.

Der Übergang von der Einleitung zum ersten Gedanken ist natürlich die Berufung, ohne dass ich sie explizit ausspreche. Unser „Job“, unser Beruf bei Gott = Berufung, die für uns Christen über Christus erfolgt als Ruf in die Nachfolge – darum ist er der Jobvermittler. Den Gedanken, dass der (Ver)Mittler sterben muss, finde ich aufregend, denn im Berufsleben sind die Vermittler die Mächtigen, die die Fäden ziehen, Gefälligkeiten erweisen und wieder einfordern. Darum ist es gefährlich, einen Job über „Vitamin B“ zu bekommen. Und darum ist Jesus ein ehrlicher Makler, weil er seine eigene Haut zu Markte trägt.

Ich habe versucht, diesen heiklen Punkt des „Vitamin B“ durch die Vermischung von Gut und Böse im Menschen auszuführen. Dahinter steckt natürlich paulinisches Denken von sarkischem und pneumatischem Menschen, die bei ihm ja keinen Dualismus bilden, sondern eben diese untrennbare Einheit darstellen, die uns Menschen ausmacht, weshalb wir „Christus anziehen“ müssen. Aber das ist natürlich nicht Theologie des Hebr.

Ich freue mich über den Gedanken der Trennung und die Unterscheidung zwischen der göttlich-schöpferischen Trennung, die Lebensraum schafft, und der menschlich-allzu menschlichen Trennung, die Leben einschränkt und be- bzw. verhindert. Er beschreibt m.E. gut, was „Sünde“ bedeutet. Wenn Jesus die Sünde unwirksam macht, hebt er die Trennung auf – aber wie macht er das? Hier ist der Ort für die Kreuzestheologie, und hier war auch die Frage, wie ausführlich dieser Abschnitt geraten kann und soll. Der Hebr löst das Problem mit der Bundestheologie, die er in seine Zeit unter Rückgriff auf das Erbrecht auslegt. Ich habe die theologia crucis um der Verständlichkeit (und der Länge der Predigt) willen extrem verkürzt mit dem Bild der Liebe dargestellt, die sich nicht unterkriegen lässt, und dabei auch das aktuelle Beispiel der Schülerproteste in den USA eingeführt, weil einem daran unmittelbar Ohnmacht wie Macht der Liebe deutlich werden.

Der Predigttitel ist mir erst am Ende eingefallen, als ich den Satz schrieb, dass wir „im Auftrag des Herrn unterwegs“ sind. Da war klar, dass der Titel für den Blog das Originalzitat aus den Blues Brothers sein musste.

 

Hier die fertige Predigt.

Begrüßung

Herzlich willkommen zum Gottesdienst am Sonntag Lätare.
Lätare, „freut euch“ – ja, darf man das denn?
Ist es nicht pietätlos, in dieser Zeit, in der wir an das Leiden und Sterben Jesu denken, zur Freude aufzurufen?
Der Sonntag Lätare hält fest,
dass es auch in dunklen Stunden,
in Zeiten des Schmerzes, der Trauer, des Verlustes
immer wieder Lichtblicke gibt.
Und der Sonntag Lätare hält daran fest,
dass es Jesus ist, der uns Grund zur Freude gibt
und die Erlaubnis, uns zu freuen, zu lachen,
auch wenn uns eigentlich zum Weinen ist.
Davon werden wir in diesem Gottesdienst hören.

Eingangsgebet

Herr, unser Gott,
dein Sohn Jesus Christus kam als Licht in die Dunkelheit der Welt.
Seine Mitmenschen haben dieses Licht nicht ertragen
und wollten es zum Verlöschen bringen.
Du aber hast es vor dem Vergehen bewahrt,
dass es in uns leuchten und uns erleuchten kann.

Dafür danken wir dir und bitten dich:
Lass dieses Licht Christi
von unserem Angesicht strahlen
und durch das, was wir tun, verbreitet werden,
damit es denen, die im Dunkel sitzen,
hell wird und auch sie das Licht und die Freude haben.

Das bitten wir dich durch Jesus Christus,
der das Licht der Welt ist,
der sein Leben verzehrte wie eine Kerze
und jetzt umso mächtiger strahlt
in der Gemeinschaft mit dir und dem Heiligen Geist
von Ewigkeit zu Ewigkeit. Amen.

Fürbitten

Herr Jesus Christus,
in dir ist Freude in allem Leide.
Wir bitten dich um Freude für unsere Kirche,

dass sie nicht die Hoffnung verliert
angesichts des Mangels an Geld, an Mitarbeitenden,
an Menschen, die sich engagieren,
sondern dankbar und freudig erkennt,
wo etwas wächst,
und dass sie dieses zarte Pflänzchen nicht mit Regeln und Strukturen erstickt, sondern ihm Raum gibt, zu werden, was es will.

Wir rufen zu dir: Herr, erbarme dich.

Herr Jesus Christus,
in dir ist Freude in allem Leide.
Wir bitten dich um Freude für unser Land,

dass wir erkennen,
in welchem Reichtum, welcher Freiheit und welchem Glück wir leben dürfen,
anstatt uns mit anderen zu vergleichen,
die mehr oder Besseres haben als wir;

dass aber auch die, die nur das Nötigste zum Leben haben,
nicht auch noch mit anderen um diese Brosamen streiten müssen.
Gib, dass jeder Mensch genug bekommt,
um in Würde und Gesundheit leben zu können.

Wir rufen zu dir:
Herr, erbarme dich.

Herr Jesus Christus,
in dir ist Freude in allem Leide.
Wir bitten dich um Freude auch für uns.

Lass uns wir lernen,
dass ein halb leeres Glas zugleich immer auch halb voll ist,
und dass das, was wir haben, womöglich ausreicht.

Schenke uns immer wieder Lichtblicke,
wenn wir Kummer haben, krank sind oder einsam
durch Menschen, die unsere Lage sehen,
sich zu uns aufmachen und uns einen Schein des Lichtes bringen,
das du bist.

Wir rufen zu dir:
Herr, erbarme dich.

Vater unser

Epiktet, Diatriben Buch I, Kapitel 18:
Dass man sich über Leute, die Fehler machen, nicht zu ärgern braucht.

[1] Wenn es wahr ist, was die Philosophen sagen, dass alle Menschen einen Anfangspunkt gemein haben, nämlich die Erfahrung: wie man zustimmt, wenn man erfährt, dass es sich so verhält und etwas verneint, wenn man erfährt, dass es sich nicht so verhält und, bei Gott!, sich zurückhält, wenn man erfährt, dass etwas unsicher ist. [2] So erstrebt man auch etwas, wenn man erfährt, dass es mir nutzt. Aber es ist unmöglich, eines interessant zu finden und ein anderes zu begehren, oder eines als Pflicht zu erkennen, aber ein anderes in Angriff zu nehmen. Warum ärgern wir uns dann noch über die Vielen? [3] – Diebe, sagt einer, sind sie, und Betrüger. – Was ist ein Dieb und Betrüger? Es sind Leute, die sich über Gut und Böse geirrt haben. [4] Muss man sich also über sie ärgern, oder mit ihnen Mitleid haben? Aber zeige ihnen ihren Irrtum auf, und du wirst sehen, wie sie von ihren Fehlern Abstand nehmen. Wenn sie aber keine Einsicht zeigen, haben sie keinen Standpunkt außerhalb ihrer Meinung erlangt.
[5] Muss man diesen Piraten und diesen Ehebrecher nicht umbringen? [6] – Keineswegs, sondern frage dich eher: „Muss nicht der umgebracht werden, der sich irrte und völlig über die wichtigsten Angelegenheiten täuschte; der blind ist nicht in Bezug auf das Sehen, das zwischen Weiß und Schwarz unterscheidet, sondern in Bezug auf die Erkenntnis, die zwischen Gut und Böse unterscheidet?“ Und wenn du so sprichst, erkenne [7], wie unmenschlich das ist, was du sagst und dass du ebensogut sagen könntest: „Muss man nicht den Blinden umbringen und den Tauben?“ [8] Wenn nämlich der Verlust der wichtigsten Dinge der größte Schaden ist, das wichtigste bei jedem aber die Überzeugung ist, nach der man handelt, und jemand dessen beraubt ist, was ärgerst du dich über ihn? [9] Mensch, wenn du schon widernatürlich von anderer Leute Schlechtigkeiten aufgebracht wirst, bemitleide ihn lieber, als ihn zu hassen. Unterdrücke deine Neigung zum Anstoßnehmen und zum Hassen. [10] Trage nicht diese Reden vor, die die Menge der Kritiker im Munde führt: „Diese verfluchten und verruchten Trottel!“ [11] Sei’s drum. Wie bist du doch plötzlich weise geworden, dass dir andere Trottel zuwider sind? Warum ärgern wir uns denn? Weil wir das Material wichtig nehmen, dessen wir beraubt werden. Sobald du also deine Kleidung nicht wichtig nimmst, ärgerst du dich auch nicht über den Dieb. Nimm die Schönheit der Frau nicht so wichtig, und du ärgerst dich nicht über den Ehebrecher. [12] Erkenne, dass ein Dieb und ein Ehebrecher keinen Platz haben in den Dingen, die dein sind, sondern in fremden Dingen und dem, was nicht in deiner Macht steht. Lässt du diese Dinge und hältst sie für nichts, über wen ärgerst du dich dann noch? Solange du aber diese wichtig nimmst, ärgere dich eher über dich als über jene Diebe. [13] Überlege dir: Du besitzt schöne Kleidung, dein Nachbar nicht. Du besitzt eine Tür und willst die Kleidung lüften. Jener Nachbar weiß nicht, was das Gute im Menschen ist, sondern bildet sich ein, es sei der Besitz schöner Kleidung, [14] was auch du dir einbildest. Wird er folglich nicht kommen und sie nehmen? Aber wenn du Leckermäulern einen Kuchen zeigst, um ihn allein zu verschlingen, willst du dann nicht, dass sie ihn sich schnappen? Reize sie nicht, besitze keine Tür, lüfte nicht deine Kleidung.
[15] Auch ich hatte jüngst noch einen eisernen Leuchter, der stand neben den Hausgöttern, als ich bei der Tür ein Geräusch hörte und hinlief. Ich fand den Leuchter als einen Gestohlenen vor. Ich überlegte, dass der Dieb nichts Ungehöriges empfunden hat. Was folgt daraus? [16] Morgen, sag ich, wirst du einen irdenen Leuchter finden. Denn man verliert nur das, was man besitzt. „Ich habe meine Jacke verloren!“ – Ja, du hattest eine Jacke. „Ich habe Kopfschmerzen!“ – Du hast doch nicht etwa Schmerzen in den Hörnern? Denn diese Verluste, diese Schmerzen kommen nur vom Eigentum.
[17] „Aber der Tyrann wird fesseln …“ – wen? Das Bein. „Aber er wird abschneiden …“ – was? Den Nacken. Was wird er folglich weder fesseln noch abschneiden können? Die Überzeugung. Darum rieten die Altvorderen: Erkenne dich selbst! [18] Was folgt daraus? Dass man, bei den Göttern!, sich um die kleinen Dinge bemühen muss und von jenen beginnend fortschreiten muss zu den größeren. [19] „Ich habe Kopfschmerzen!“ – Sag nicht: „Oh weh!“. „Ich habe Öhrchenschmerzen!“ – Sag nicht: „Oh weh!“. Und ich sage damit nicht, dass man nicht seufzen darf. Aber innerlich sollst du nicht seufzen. Auch sollst du nicht schreien und das Gesicht verziehen und sagen: „Alle hassen mich!“, wenn der Diener den Verband zu langsam bringt. Wer würde so jemanden nicht hassen? [20] In Zukunft lebe richtig, im Vertrauen auf diese Grundsätze, aufrecht und frei, und vertraue nicht auf die Größe des Körpers wie ein Athlet. Denn man braucht nicht wie ein Esel unbesiegbar zu sein.
[21] Wer also ist unbesiegbar? Wen nichts Unvorhergesehenes aus der Fassung bringt. Also betrachte ich im Folgenden jeden der Umstände und nehme ihn durch wie beim Athleten. „Dieser Athlet erzwang den Sieg in der ersten Disziplin. Was wird in der zweiten sein? Was, wenn es Hitze gibt? Was in Olympia?“ Und hier ist es dasselbe: Wenn du ihm ein Silbermünzlein hinwirfst, wird er es ignorieren. Was aber, wenn es ein Mädchen ist? Was, wenn es dunkel ist [= wenn es niemand sieht]? Was, wenn es eine kleine Ehre ist? Was, wenn es eine Kränkung ist? Was, wenn es ein Lob ist? Was, wenn es der Tod ist? [23] Er kann über all das siegen. Was, wenn es brütend heiß wäre, das meint: Was, wenn er betrunken wäre? Was, wenn er depressiv wäre? Was, wenn er schläft? So einer ist für mich ein unbesiegbarer Athlet.